Nico and The Navigators zeigen „The whole Truth about Lies“ im Radialsystem

Es beginnt als zart sprießendes Geflecht. Gerade noch war das Gesicht von Annedore Kleist zu sehen. In großformatiger Projektion erzählt sie, dass jeder Mensch pro Tag auf 200 Lügen kommt. So jedenfalls die landläufige Behauptung. Während die Schauspielerin redet, wuchert der Bildschirm immer weiter zu. Aus dem harmlosen Myzel vom Anfang ist ein Geschwür, ein toxischer Pilz geworden, der sich wie ein opaker Film über alles legt.
Das ist nur eine von vielen visuellen Metaphern, die Nico and the Navigators für ihre neue Produktion ersonnen haben, um einem Phänomen nachzugehen, das immer mehr in unsere Lebenswirklichkeit einzubrechen scheint: die Lüge und ihre modernen Schwestern, die Fake News. Dem Stück den Titel „The whole Truth about Lies“ zu geben, rückt bereits ein wichtiges Merkmal des Lügens in den Fokus, nämlich die Absolutheit der Behauptung, die bei näherem Hinsehen genauso schnell wieder in sich zusammenfallen kann.
In typischer Nico-and-the-Navigators-Manier verzahnt das Ensemble um Nicola Hümpel und Oliver Proske Musik, Text und Tanz zu einer vielschichtigen Collage, die – vielleicht noch mehr als sonst – mit der Illusionskraft der theatralen Oberfläche spielen will. Als Booster der optischen Gaukelei kommen dabei KI-Bildgeneratoren zum Einsatz. In einem wahnwitzigen Ritt morphen sich die Bilder durch ein Panoptikum der Verfremdung. In dem natürlich auch an den Themen Macht der sozialen Medien und Manipulation der Massen entlanggesurft wird. Wen überrascht´s, wenn sich in diesem Personen-Karussell Figuren wie Trump, Putin und Marine Le Pen herausschälen? Wohl niemanden.

Die Show ist alles: Martin Buczko und eine KI-generierte Version von Trump (Foto: Oliver Proske)
Von der kleinen Unwahrheit im Privaten bis zum großen Schwindel auf der politischen Bühne, im Sujet des Lügens steckt von Natur aus jede Menge Negativ-Potenzial. Dass der Abend trotzdem auffallend viele poetische Momente bereithält, liegt vor allem an einer alten Illusionstechnik, die Nico and the Navigators ausgegraben haben: „Pepper´s Ghost“. Um 1860 vom britischen Erfinder John Henry Pepper entwickelt, sorgt ein halbtransparenter, gekippter Spiegel für verblüffende Bühneneffekte. Wenn die Darsteller:innen auf dem Boden liegen und sich bewegen, wirkt es in der vertikalen Projektion so, als würden sie durch die Luft schwimmen oder fliegen. Ein dramaturgischer Kniff, der auch dem Publikum einen Spiegel vorhält: Wir sehen „die Lüge“ und erliegen trotzdem ihrem optischen Reiz.
Auch musikalisch schürft der Abend tief im klassischen und zeitgenössischen Repertoire nach dem Soundtrack zum Betrügen und Betrogenwerden: Von Händels barocker Schutzengel-Beschwörung über Chopins „Trauermarsch-Sonate“, Schumann-Liedern à la „Ich grolle nicht“ bis hin zu „Little Lies“ von Fleetwood Mac und „Gimme Some Truth“ von John Lennon spannt sich der Bogen.
Gehen wir am Ende mit „The Whole Truth about Lies“ nach Hause? Das vielleicht nicht, mit reichlich Input für Denkanstöße aber schon.
Text: Annett Jaensch