Das Nederlands Dans Theater & Complicité zeigen „Figures in Extinction“

Aus einem matten Lichtkegel auf der tiefschwarzen Bühne schält sich eine Silhouette heraus: halb Mensch, halb Tier. Statt Arme besitzt das Wesen riesige Hörner, die es mit gravitätischer Eleganz
durch den Raum kreisen lässt. Ein eingeblendeter Übertitel verrät, was es mit dem mystischen Zwitter auf sich hat: „Figure 1 – Pyrenean Ibex“. Der Pyrenäensteinbock also, der seit dem Jahr 2000
als ausgestorben gilt, hat hier seinen Auftritt. „The list“ heißt der erste Teil der Trilogie und in die Aufzählung reihen sich noch viele weitere Spezies ein, die für immer vom Erdboden
verschwunden sind: das nördliche Breitmaulnashorn, der Säbelzahntiger oder der chinesische Löffelstör etwa. Auch ausgelöschte Naturorte, wie geschmolzene Gletscher, rangieren unter einer
nüchternen Nummer.
Mehrere Jahre arbeiteten die kanadische Choreografin Crystal Pite und der britische Theatermacher Simon McBurney gemeinsam an „Figures in Extinction“. Herausgekommen ist ein wuchtiges
Bühnen-Epos, bei dem jeder Teil als Art Replik auf das vorangegangene Stück zu verstehen ist. „The list“ zeigt als Aufmacher, wohin die stilistische Reise geht: Eine Collage von Erzählstimmen aus
dem Off etabliert sich als Meta-Ebene, verstärkt oder konterkariert das Gezeigte. Wenn die 22 Tänzer:innen sich auf der Bühne den Arten-Porträts widmen, ist zum Beispiel ein O-Ton von Donald
Trump zu hören, der von sich behauptet „I´m an environmentalist“. Hier krachen Realität und fehlender politischer Wille eindrucksvoll zusammen.

Alle nur im Linkshirn-Modus? Figures in Extinction (2.0) but then you come to the humans, Foto: Rahi Rezvani
Während „The list“ dem Artensterben nachspürt, prescht der temporeiche zweite Teil direkt hinein in eine Spiegelung unserer eigenen Spezies: „But then you come to the humans“. In graue Anzüge gesteckt, Smartphones als leuchtende Mini-Bildschirme in der Hand, so tanzt das Ensemble immer wieder mit direktem Blickkontakt Richtung Publikum. Frenetisch überspannt, aber auch irgendwie blutleer, wirken sie dabei. Auf der langen Liste der Inspirationsquellen für das Stück findet sich auch das Buch „The Divided Brain And The Making Of The Western World“ (2009) von Iain McGilchrist.
Der britische Neuro-Wissenschaftler und Philosoph argumentiert, dass in der westlichen Kultur im Laufe der Zeit eine Linkshirn-Fixierung entstanden ist – mit Betonung auf Kontrolle, Rationalität und Technik – was aber auch eine einseitige, reduktionistische Weltanschauung begünstigt. In der die Stärken der rechten Hirnhälfte – Kreativität, Empathie und Verständnis von Kontext – eher als nette, aber erlässliche Softskills gelten. Welches Potenzial, auch für Krisenbewältigung, hätte eine Hemisphären-Performance im Gleichklang? „Der intuitive Verstand ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener“, fand auch schon Albert Einstein.

Mutter Erde auf dem Sterbebett – Figures in Extinction (3.0) requiem, Foto: Rahi Rezvani
Nach diesem Gehirn-Diskurs, der im wahrsten Sinne des Wortes nachdenklich macht, gleitet das Stück hinüber zum letzten Teil „requiem“. Der atmosphärische Cut ist hart: ein Krankenhausbett umringt von Angehörigen, schwere Atemgeräusche, ein Mensch liegt im Sterben. Diese Szene schneidet einmal quer durch menschliche Verlustängste, denn hier verkoppelt sich das Bild der eigenen Mutter mit Mutter Natur. Dramaturgisch zerfasert der dritte Teil nach dieser Sequenz leider ein wenig, weil die Botschaft schon durchdekliniert wirkt und die Licht- und Musikuntermalung final auch recht weit ins Pathosgetränkte rutscht.
„Figures in Extinction“ bleibt trotzdem ein Tanz- und Theatererlebnis der Extra-Klasse. Mit Bildern und Zeitgeistbefunden, die noch lange nachhallen.
Text: Annett Jaensch