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Existenzrauschen

Tanz im August/ Festivalsplitter: „Specky Clark“ von Oona Doherty und „Jungle“ von KNCDC

Das große Plus von Festivals ist, dass die kuratorische Auswahl einen in sehr gegensätzliche Sphären katapultieren kann. Wer sich „Specky Clark“ von Oona Doherty und „Jungle“ der Korea National Contemporary Dance Company anschaute, der konnte in der diesjährigen Ausgabe von Tanz im August in solch ein diametral unterschiedliches Seherlebnis eintauchen. Oona Doherty war schon einmal zu Gast in Berlin. 2022 zeigte die nordirische Choreografin „Navy Blue“, ein wuchtiges, dunkles Stück, das zu den Klängen von Rachmaninoff um gegenwärtige Krisen und kollektive Heilung kreiste. Die 1986 in London geborene und inzwischen in Marseille lebende Künstlerin greift gern soziale Problemthemen auf. Dass ihren Arbeiten inzwischen fast schon pauschal das Etikett „voice of the working class“ angeheftet wird, findet sie allerdings zu kurz gegriffen, wie sie in Interviews erzählt.

 

Für „Specky Clark“ hat Doherty tief in der eigenen Familiengeschichte gegraben. Um ihren Ururgroßvater geht es, der mit zehn Jahren seine Mutter verlor und zu zwei schrulligen Tanten nach Belfast geschickt wurde. Im neuen Zuhause wartet eine Zumutung auf ihn: Um Geld zu verdienen, soll er in einem Schlachthof arbeiten. Der junge Specky zittert und bebt förmlich durch die ersten Minuten des Stücks, als würde die Psyche des sensiblen Heranwachsenden nach außen gekehrt. Erin O´Reilly ist – auch dank ihrer androgynen Erscheinung – die perfekte Besetzung für die Figur, der zwischen den kalten Wänden der Schlachterei noch viel mehr Grundstürzendes widerfahren wird. Zum Beispiel ein anderes lebendes Wesen töten zu müssen.

 

Oona Doherty inszeniert die Reise von Specky als Genre-Hybrid: Da gibt es kammerspielartige Szenen mit reichlich Theaterrequisiten, eine Textebene aus dem Off (im breitesten irischen Englisch), sogar Anleihen bei Commedia dell'arte, bis das Stück final als Tanzstück Fahrt aufnimmt und ins Phantastische driftet. Denn in der Nacht zu Halloween treffen die Lebenden auf die Toten. Es erwachen Schweinehälften wieder zum Leben, Zottelwesen aus der irischen Mythologie haben ihren Auftritt und Specky – inzwischen im Skelett-Kostüm – tanzt sich ekstatisch frei. Doherty hat hier eine berührende Coming-of-Age-Geschichte auf die Bühne gebracht, die von existenziellen Klassenzwängen und von Verlust von Kindheit erzählt, aber auch einen zarten Funken Hoffnung versprüht.

 

Im Dunklen das Helle suchen, Szene aus „Jungle“ (Foto: Dajana Lothert)

 

Ganz anders nähert sich das Stück „Jungle“ den Facetten menschlicher Erfahrung. Die Korea National Contemporary Dance Company entführt uns 60 Minuten lang in eine verschattete, rätselhafte Zwischenwelt. Das Bühnenbild ist ein Abbild der Kargkeit: schwarze Leere, über der sich eine Art Blätterdach wölbt, durch das immer wieder Lichtkegel brechen. Der koreanische Choreograf Kim Sungyong schickt seine 15 Tänzer und Tänzerinnen in ein Spiel mit diesem Chiaroscuro-Setting. Sanfte, fließende Bewegungen, aber auch teils erstaunliche Spreizungen und Verwirbelungen prägen das Bewegungsvokabular. Die hypnotisch pulsierenden Klänge des Komponisten Marihiko Hara treiben das abstrakte Geschehen vorwärts. Auffällig ist, dass bei aller Verwobenheit der Bewegungen kaum Kontakte zwischen den Performer*innen entstehen. Geht es um Lebenszyklen, um die Vereinzelung menschlicher Existenz in unserer Gegenwart oder um Isolation im Dschungel Großstadt? Das Stück dockt an allen diesen Möglichkeiten an, bleibt aber bis zum Ende konsequent im bedeutungsoffenen Raum.

 

Die Existenzschau kam jedenfalls an: Beide Stücke wurden vom Publikum frenetisch gefeiert!

Annett Jaensch
 

 

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